Anreize und Anstöße (Nudges) im Gesundheitswesen – Verhaltensökonomie im Gesundheitswesen

Prof. Dr. Günther E. Braun, Forschungszentrum für Management im Gesundheitswesen im Institut für Management öffentlicher Aufgaben an der Fakultät für Wirtschafts- und Organisationswissenschaften, Universität der Bundeswehr München:

Es wird Zeit, sich vermehrt dem Themenbereich Anreize und Anstöße (Nudges) im Gesundheitswesen zuzuwenden. Das klassische Konzept des rationalen Verhaltens von Individuen in der Mikroökonomie und die Analysen des rationalen Verhaltens mehrerer Personen in der Spieltheorie haben zu beachtlichen Erkenntnissen geführt. Doch können wir offensichtlich nicht davon ausgehen, dass der Mensch in jedem Falle ein rationaler Informationssammler, -verarbeiter und Entscheider sowie ein rationaler Kooperationspartner in dem Sinne ist, jeweils gegenseitig zum maximalen Wohl der Partner in gemeinsamen Entscheidungssituationen zu handeln. An die Stelle der vollkommenen tritt die Annahme der begrenzten Rationalität. Und die Verhaltensökonomie kollektiver Entscheidungen untersucht konzeptionell und experimentell solche Einflussfaktoren auf die kollektive Entscheidung wie z.B. Vertrauen, Fairness, Verlustängste, Risiko und Unsicherheit, Länge von Beziehungen und greift damit psychologische und soziologische Dimensionen auf.

Auch für Analyse und Gestaltung des Gesundheitswesens wird zukünftig vermehrt der Erkenntnisbeitrag der Verhaltensökonomie zu prüfen sein. In vielerlei Ausprägung liegen Rationalitätsdefizite im Gesundheitswesen vor. Agieren etwa Ärzte und Patienten in einer konkreten Arzt-Patienten-Beziehung rational im oben beschriebenen Sinne und suchen z.B. nach allen Alternativen und Randbedingungen ihres Handelns und betrachten den jeweils anderen so, dass gemeinsam nach der kollektiv besten Lösung gestrebt wird? Handeln die Leistungserbringer untereinander in einem Sektor und sektorenübergreifend im Kontext einer vollkommenen Rationalität? Oder wenn wir die Kostenträger und die Gesundheitspolitiker mit einbeziehen: ist hier im umfassenden Beziehungsgeflecht ein rationales Handeln zu beobachten? In der Analyse solcher und ähnlicher Fragestellungen kann die Verhaltensökonomie zukünftig einen voraussichtlich wichtigen Beitrag leisten.

Im Besonderen gilt es zu prüfen, ob eine (populäre) Variante der Verhaltensökonomie, das Konzept der Anstöße (Nudges) des Ökonomen Richard H. Thaler und der Juristen Cass. R. Sunstein (2008) geeignet ist, Rationalitätsdefizite im Gesundheitswesen aufzuspüren, zu analysieren und Gestaltungsvorschläge zu ihrer Überwindung zu formulieren. Obgleich auch kritische Positionen zum Konzept der Nudges vertreten werden (z.B. Gigerenzer 2013), wird hier eine gewisse Hoffnung geäußert, diesen Ansatz in einem fortschrittsfähigen Sinne zukünftig aufgreifen zu können. Denn offensichtlich sind wir Menschen, gerade im Gesundheitswesen, nicht in der Lage, das umzusetzen, was wir eigentlich umzusetzen wünschen. Gäbe es sonst nicht weniger Raucher? Ein Lösungsvorschlag nach Thaler-Sunstein bestünde darin, eine Entscheidungsarchitektur durch Einsatz geeigneter Anstöße (Nudges) zu entwerfen, die uns hilft, entsprechend unserer Zielvorstellungen zu handeln. Wir können, müssen aber nicht den Anstößen folgen. Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen wird also nicht tangiert. Thaler-Sunstein bezeichnen ihr Konzept als libertären (vielleicht besser „liberalen“) Paternalismus. Denn es werden Anstöße dezidiert in eine Entscheidungssituation eingebracht, die dem einzelnen helfen sollen, sich zu verwirklichen, ohne ihn aber in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Die sog. Widerspruchslösung im Kontext der Organspenden wäre ein Beispiel für einen solchen Anstoß. Jedermann wäre gehalten, zu spenden. Und offensichtlich wünschen wir dies auch, wenngleich wir es in der Praxis aus verschiedensten Gründen nicht schaffen. Der gesetzlich vorgegebene Nudge, spenden zu müssen, es sei denn wir widersprechen, kann die wünschenswerte Erhöhung der Spenderquote bewirken. In einem auf das Gesundheitswesen übertragenen Konzept der Anstöße sind Einsatzmöglichkeiten für Anstöße systematisch auf Anwendbarkeit zu prüfen. Dadurch können wir im positiven Falle im Sinne des Input-Throughput-Output-Outcome-Schemas der Versorgungsforschung Effektivität und Effizienz steigern.

Projekt

Der mündige Patient und das verhaltensökonomische Konzept der Anstöße (Nudges) im Gesundheitswese