Mutterkorn und Mutterkornalkaloide in Getreide und Mehl

Vorkommen und Bildung

Mutterkorn ist die Überwinterungsform des Pflanzenparasiten Claviceps purpurea, der sich in den Fruchtanlagen vieler Gräser entwickelt. Statt des Getreidekorns entsteht ein dunkelgefärbtes Mutterkorn, das aus der Ähre herausragt und die hochgiftigen Mutterkornalkaloide enthält. Mutterkorn- bzw. Ergotalkaloide können auch von anderen Pilzarten der Familie Claviceps gebildet werden, der Schimmelpilz Claviceps purpurea ist aufgrund von klimatischen Bedingungen in Europa und Deutschland allerdings am weitesten verbreitet [1, 2].

Von den Getreidearten werden vor allem Roggen und Triticale (Kreuzung aus Roggen und Weizen), seltener Weizen, Hafer und Gerste befallen. Diese Getreidesorten stellen für den Mutterkornpilz Wirtspflanzen dar, die ihn mit wichtigen Nährstoffen versorgen. Wo Roggen in dichter Fruchtfolge angebaut wird, ist Mutterkorn weit verbreitet und tritt abhängig von ungünstigen Witterungseinflüssen in den einzelnen Jahren unterschiedlich häufig auf. "Mutterkornjahre" sind feucht-kühl während der Blühperiode der Wirtspflanzen. Die Infektionsgefahr kann durch eine Reihe landwirtschaftlicher Maßnahmen, wie z. B. eine Variation der Fruchtfolge, verringert werden. Werden auch Pflanzensorten wie Kartoffeln oder Mais angebaut, die der Pilz nicht als Wirtspflanze nutzen kann, wird die Verbreitung von Mutterkorn reduziert [1, 3].

Weitere Möglichkeiten zur Eliminierung von Mutterkorn in Konsumgetreide stehen durch die moderne Mühlentechnik zur Verfügung. Zur Reinigung können unter anderem mechanische Leichtkornausleser, Siebsortierer oder Farbausleser verwendet werden. Aus Gründen des gesundheitlichen Verbraucherschutzes sollen alle verfügbaren technologischen Möglichkeiten genutzt werden, damit nur Getreide, das weitgehend frei ist von Mutterkorn, an den Verbraucher gelangt. Alle Beteiligten der Lebensmittelkette sollten sich daher an die aktuellen Handlungsempfehlungen halten. Landwirte, die Getreide selbst vermarkten und nicht über eine eigene Möglichkeit zur Reinigung von Getreide verfügen, sollten ihr Erntegut bei einer Mühle mit einem geeigneten Reinigungssystem zur Entfernung von Mutterkorn reinigen lassen. [1]


Chemische Struktur

Verantwortlich für die stark giftige Wirkung des Mutterkorns sind eine Reihe von verschiedenen Alkaloiden die sogenannten Mutterkorn- bzw. Ergotalkaloide. Bisher sind über 50 verschiedene Ergotalkaloide bekannt. Der Ergotalkaloidgehalt in Mutterkorn ist starken Schwankungen unterworfen, liegt aber meist weit unter 1%. Ergotalkaloide wurden als Vorstufe bzw. überwiegend als Amide der Lysergsäure identifiziert. Das nicht natürlich vorkommende Rauschgift LSD (Lysergsäurediethylamid) ist ein halbsynthetisches Derivat von Ergotalkaloiden. Wegen der vielfältigen Wirkungen einzelner Mutterkornalkaloide werden diese Substanzen auch biotechnologisch gewonnen und in der Medizin z. B. zur Migränebekämpfung oder als Wehenmittel eingesetzt [2].

Strukturformel

Abbildung 2: Strukturformel des Ergotalkaloids Ergometrin

Gesundheitliche Beurteilung

Bereits im Mittelalter traten Vergiftungen mit Mutterkorn auf, nicht selten kam es hierbei auch zu Todesfällen. Die Krankheit wurde damals als „St. Antonius-Feuer“ bezeichnet. Eine chronische Mutterkornvergiftung führt über Kribbeln der Haut zu starken Muskelkrämpfen (Krampfseuche, Kribbelkrankheit) oder zu brennenden Schmerzen einzelner Gliedmaßen, die später gefühllos werden und aufgrund extremer Verengung der Gefäße sogar absterben können. Heutzutage wird dies als Ergotismus bezeichnet. Aufgrund der inzwischen angewendeten landwirtschaftlichen Reduzierungsmaßnahmen sind solche Mutterkorn-Epidemien heutzutage allerdings praktisch ausgeschlossen [2].

Ergotalkaloide weisen als Lysersäurederivate Strukturähnlichkeiten mit den Neurotransmittern Noradrenalin, Dopamin und Serotonin auf und können dementsprechend mit den Rezeptoren dieser Neurotransmitter interagieren. So wurden auch zentralnervöse adverse Effekte wie Schläfrigkeit, Orientierungslosigkeit, Kopfschmerzen und Verwirrtheit beschrieben [2].

Ergometrin wird in der Medizin verwendet, um Gebärmutterkontraktionen auszulösen. Folglich haben vor allem Schwangere ein erhöhtes Risiko bezüglich der toxischen Wirkungen durch Ergotalkaloide [2]. Anhand der toxikologischen Daten hat das JECFA (Joint FAO/WHO Expert Committee on Food Additives) 2021 eine akute Referenzdosis (ARfD) und eine tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (TDI = tolerable daily intake) von 0,4 µg/kg Körpergewicht für die Summe an Ergotalkaloiden ermittelt [4].

Höchstgehaltsregelungen

Für Mutterkorn-Sklerotien in unverarbeitetem Roggen gilt laut Verordnung (EG) Nr. 1881/200 bis zum 30.06.2024 ein Höchstgehalt von 0,5 g/kg. Für die restlichen, für Mutterkorn weniger anfälligen Getreidesorten ist der neu eingeführte Höchstgehalt niedriger angesetzt und liegt bei 0,2 g/kg. Auch der Höchstgehalt für Roggen wird nach einer Übergangsfrist ab 01.07.2024 auf 0,2 g/kg abgesenkt. Dies entspricht einem Gewichtsanteil von 0,02 %. Nach dem Vermahlen des Getreides kann der Gehalt an Mutterkorn aufgrund der Zerkleinerung in der Regel aber nicht mehr einfach bestimmt werden, sodass dieser Höchstgehalt für verarbeitetes Getreide und Getreideprodukte nicht herangezogen werden kann. In verarbeitetem Getreide und Getreideprodukten ist daher der analytisch messbare Gehalt an Ergotalkaloiden entscheidend für die lebensmittelrechtliche Beurteilung [5].

Für die 12 Hauptformen der Ergotalkaloide in Mutterkorn wurden 2021 durch eine Ergänzung der Verordnung (EG) Nr. 1881/2006 EU-weit gültige Höchstgehalte eingeführt. Auch hier ist der Höchstgehalt für Roggenkörner und Roggenmehl höher angesetzt (vorübergehend bei 500 µg/kg) als für die anderen Getreidesorten Gerste, Weizen, Dinkel und Hafer (150 µg/kg für ganze Körner). Der Höchstgehalt für die Summe der Ergotalkaloide in Roggen wird ab 01.07.2024 auf 250 µg/kg abgesenkt [5].

Zudem muss gewährleistet sein, dass das Lebensmittel nicht gesundheitsschädlich im Sinne des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 ist [6]. Daher führt das LGL im Sinne des Verbraucherschutzes bei Proben (Getreide, Getreideerzeugnisse) mit sehr hohen Gehalten an Ergotalkaloiden eine individuelle toxikologische Bewertung durch, um eine mögliche Gesundheitsschädlichkeit beurteilen zu können. Dabei werden die in den Proben ermittelten Gehalte mit toxikologischen Kenndaten wie der akuten Referenzdosis (ARfD) oder der tolerierbaren täglichen Aufnahmemenge (TDI) über Expositionsabschätzungen verglichen.

Untersuchungen

Trotz der verfügbaren Reduzierungsmaßnahmen finden sich auch heute noch Getreide und Getreideerzeugnisse, die teilweise sehr hohe Gehalte an Ergotalkaloiden aufweisen und bei denen eine gesundheitsschädliche Wirkung nicht ausgeschlossen werden kann. Die Belastungssituation bei Getreide und Getreideerzeugnissen mit Ergotalkaloiden wird daher auch in Zukunft routinemäßig durch das LGL überwacht.

Quellen und weiterführende Hinweise

[1] Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), Max Rubner‐Institut, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel (MRI) et al.; 2014: Handlungsempfehlungen zur Minimierung von Mutterkorn und Ergotalkaloiden in Getreide

[2] Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), 2012) Scientific Opinion on Ergot alkaloids in food and feed. EFSA Journal 10(7):2798.

[3] Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR); 2012: Einzelfall-Bewertung von Ergotalkaloid-Gehalten in Roggenmehl und Roggen-broten, Stellungnahme Nr. 024/2013 von 7. November 2012, aktualisiert am 28.08.2013

[4] Joint FAO/WHO Expert Committee on Food Additives (JECFA), Ninety-first meeting (Safety evaluation of certain food additives and contaminants), Virtual meeting, 1–12 February 2021, summary and conclusions, Issued on 5 March 2021

[5] Verordnung (EG) Nr. 1881/2006 der Kommission vom 19. Dezember 2006 zur Festsetzung der Höchstgehalte für bestimmte Kontaminanten in Lebensmitteln (ABl. L 364 S. 5), zuletzt geändert durch Art. 1 VO (EU) 2022/1393 vom 11.8.2022 (ABl. L 211 S. 83)

[6] Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31 S. 1), zuletzt geändert durch Art. 1 VO (EU) 2019/1381 vom 20.6.2019 (ABl. L 231 S. 1)