Bedeutung der psychischen Komorbidität für das Inanspruchnahmeverhalten der Patienten in deutschen Hausarztpraxen

Prof. Dr. med. Antonius Schneider, Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München (TUM), Klinikum rechts der Isar:

Ziele

Im hausärztlichen Routinebetrieb werden häufig Überweisungen ohne vorherigen Arztkontakt eingefordert (Tresen-Überweisungen). Dies ist problematisch, weil der Verdacht nahe liegt, dass es sich hier um Patienten mit hoher Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bei erhöhter psychischer Komorbidität handelt.

Methodik

In einer Querschnittserhebung in 13 hausärztlichen Praxen wurden 307 Patienten mit Tresen-Überweisung mit dem Patient Health Questionnaire (PHQ) zu Depression, Angst, Panikstörung, Somatoformer Störung befragt (unabhängige Variablen). Zusätzlich wurden die Anzahl der Praxiskontakte, Überweisungen und Arbeitsunfähigkeitstage innerhalb eines Jahres ermittelt (abhängige Variablen). Die Patienten wurden im Regressionsmodell mit 977 Patienten aus der normalen hausärztlichen Sprechstunde verglichen.

Ergebnisse

Die Kontaktrate von Patienten ohne Tresenüberweisung lag bei durchschnittlich 15,2 (Standardabweichung 16,4), bei Patienten mit Tresenüberweisung bei 13,9 (9,3) (p=0,019). Patienten mit Tresenüberweisung nahmen insgesamt mehr Überweisungen in Anspruch (durchschnittlich 3,7 versus 6,6; p<0,001). Es gab keine statistisch auffälligen Unterschiede zwischen Patienten mit und ohne Tresen-Überweisung bezüglich der psychischen Komorbidität. Für die Gesamtgruppe war die Somatoforme Störung (OR 2,4; 95%Konfidenzintervall 1,4-4,3) mit einer hohen hausärztlichen Kontaktrate assoziiert. Hohe Überweisungszahlen konnten bei guter Varianzaufklärung (R²) mit Depression (OR 2,1; 1,1-4,0; R²=35,3%), Angst (OR 4,1; 1,8-9,6; R²=34,5%), Panik (OR 5,9; 2,1-16,4; R²=34,3%) und Somatoformer Störung (OR 2,2; 1,2-4,0; R²=34,6%) erklärt werden. Auch eine lange Arbeitsunfähigkeitsdauer hing mit Depression (OR 2,5; 1,2-4,8), Angst (OR 4,2; 1,7-10,5) und Somatoformer Störung (OR 2,2; 1,2-4,2) zusammen.

Schlussfolgerungen

Die psychische Komorbidität trägt zu einer verstärkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bei. Dies sollte insbesondere bedacht werden, wenn zahlreiche Überweisungen eingefordert werden. Dabei ist nicht relevant, ob es sich um Patienten handelt, die lediglich Überweisungen an den Tresen ohne Arztkontakt abholen – denn diese Auffälligkeit gilt für alle Patienten gleichermaßen. Eine Identifizierung von Patienten mit „doctor-hopping“ ist von hoher Bedeutung, um entsprechende Ursachen zu erkennen, besprechen und damit vermeiden zu können. Fraglich ist, ob bei der hohen Kontaktrate, die letztlich durch das quartalsbasierte Abrechnungssystem gefördert wird, eine Identifikation von Patienten mit erhöhter psychischer Komorbidität möglich ist. Mehr Zeit wäre notwendig zur Diagnostik und für beratende Gespräche für diese Patienten mit komplexen Gesundheitsproblemen.

Schneider A, Hilbert B, Hörlein E et al. The effect of mental comorbidity on service delivery planning in primary care: an analysis with particular reference to patients who request referral without prior assessment. Dtsch Arztebl Int 2013; 110: 653-9.