Herausforderungen für die Versorgungsforschung am Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)

Prof. Dr. Oliver Schöffski, MPH, Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU):

Das deutsche Gesundheitssystem steht vor zahlreichen Herausforderungen. Neben der Sicherstellung der Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen, zählt die Bewältigung des demographischen Wandels zu einer der größten Herausforderungen. Angaben des statistischen Bundesamts zufolge wird im Jahr 2060 bereits jeder dritte Deutsche über 65 Jahre alt sein, während gleichzeitig der Anteil der unter 20-Jährigen auf 14% sinken wird. Das Älterwerden der Gesellschaft und damit einhergehend die Zunahme chronischer Krankheiten und Multimorbidität sowie der medizinische Fortschritt im Bereich medizintechnischer Innovationen und Errungenschaften im Bereich neuer bzw. andersartiger Diagnose- und Behandlungsverfahren zählen zu den wesentlichen Kostentreibern im Gesundheitswesen. Gleichzeitig nimmt, bedingt durch die Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung, die Zahl der Beitragszahler ab. Die zentrale Problematik der nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte wird darin bestehen, das Versorgungsniveau zu erhalten bzw. zu verbessern und gleichzeitig die Finanzierbarkeit des Systems sicherzustellen.

Derartige Fragestellungen spielen in den etablierten Forschungsrichtungen wie beispielsweise der biochemischen Grundlagenforschung oder der klinischen Forschung wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle. Mit der Versorgungsforschung hat sich eine neue Disziplin entwickelt, die sich erstmalig mit derartigen Fragestellungen beschäftigt. Der Forschungsgegenstand der Versorgungsforschung ist die Analyse des realen Versorgungsgeschehens. Es geht um die Beschreibung der Kranken- bzw. Gesundheitsversorgung und deren Rahmenbedingungen sowie die Evaluation verschiedenster Interventionen unter Alltagsbedingungen. Damit werden nunmehr Aspekte relevant, die in der klinischen Forschung bisher ausgeklammert wurden. So kann beispielsweise eine mangelnde Compliance der Patienten dazu führen, dass sich die Wirksamkeit eines Medikaments unter Alltagsbedingungen ganz anders darstellt als in einem kontrollierten klinischen Setting.

Aufgrund der Komplexität und Bandbreite des Forschungsgegenstands steht die Versorgungsforschung sowohl vor wissenschaftlichen als auch praktischen Herausforderungen und zwar unabhängig davon, ob man sich den Fragestellungen mit Primär- oder Sekundärdaten nähert.

Durch die beiden Forschungsansätze der empirischen Sozialforschung und der klinischen Epidemiologie steht zwar eine Vielzahl verschiedener Methoden zur Verfügung. Diese müssen allerdings erst auf ihre Eignung im Bereich der Versorgungsforschung hin überprüft und gegebenenfalls angepasst bzw. erweitert werden. So eignen sich viele Befragungsdesigns aus der empirischen Sozialforschung schlichtweg nicht zur Befragung von alten, kranken oder behinderten Menschen. Zudem sehen sich Wissenschaftler der Versorgungsforschung ständig in einem Spannungsfeld zwischen hoher interner Validität der Verfahren auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer möglichst hohen Realitätsnähe – schließlich sollen die Ergebnisse auf die Versorgungspraxis übertragen werden können.

Abgesehen von der Möglichkeit der eigenständigen Datenerhebung ist die Versorgungsforschung in vielen Fällen auf das Vorliegen von validen und aussagekräftigen Daten, die das tatsächliche Versorgungsgeschehen abbilden, angewiesen. Neben der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der Daten spielt auch die Datenqualität eine entscheidende Rolle. Bei der Verwendung der Daten wiederum ist der Datenschutz ein höchst relevantes Thema. Eine weitere Schwierigkeit, insbesondere in der Gesundheitsökonomie, besteht in der Bewertung der Ressourcenverbräuche. Beispielsweise aufgrund der Vielzahl von bestehenden Rabattverträgen, die nicht öffentlich zugänglich sind, ist eine reale Abbildung der Arzneimittelkosten nahezu unmöglich.

Die Versorgungsforschung ist in Deutschland noch eine vergleichsweise junge Disziplin. Im internationalen Vergleich hat man in Deutschland erst relativ spät begonnen sich mit der Analyse des realen Versorgungsgeschehens zu beschäftigen. Erste Forschungsansätze gehen in die richtige Richtung, allerdings gilt es die Entwicklung der Versorgungsforschung stärker voran zu treiben bzw. zu forcieren. Hierzu müssen zunächst bestehende Forschungsstrukturen weiter auf- bzw. ausgebaut werden. Positiv zu bewerten ist, dass in der letzten Zeit vermehrt Mittel in diesem Bereich zur Verfügung gestellt wurden. Es scheint erkannt worden zu sein, dass Investitionen in die Versorgungsforschung Investitionen in die Zukunft darstellen. Nichtsdestotrotz bedarf es der Intensivierung des Austauschs zwischen Forschung und Praxis, der Förderung entsprechender Forschungsprojekte sowie der Sicherstellung der Finanzierung. Parallel zur materiellen Förderung muss der wissenschaftliche Nachwuchs entsprechend ideelle Förderung erfahren. Da die Versorgungsforschung an der Schnittstelle verschiedenster Disziplinen angesiedelt ist, gilt es auch den interdisziplinären Austausch stärker anzuregen. Koordination und Netzwerkbildung sind insbesondere für die regionale Weiterentwicklung der Versorgungsforschung unerlässlich.