Versorgungsforschung am Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München (TUM)

Prof. Dr. med. Antonius Schneider, Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München (TUM), Klinikum rechts der Isar:
Die zentralen Aspekte der Versorgungsforschung am Institut für Allgemeinmedizin liegen naturgemäß auf dem hausärztlichen Versorgungsbereich. Schwerpunkte bilden Diagnostische Studien, Bestimmung der Bedeutung von psychischer Komorbidität für die hausärztliche Diagnostik und Versorgungssteuerung, geriatrische Aspekte der hausärztlichen Versorgung und die Beschreibung von hausärztlicher Versorgung und Steuerungsfunktion anhand von Routinedaten. Neben diesen patientenbezogenen Studien werden auch Untersuchungen zur Erfassung von Haltungen und Motivationslagen des medizinischen Nachwuchses durchgeführt, um hierdurch Hinweise zu erhalten, wie dem drohenden Hausärztemangel begegnet werden könnte. Die einzelnen Projekte werden im Folgenden dargelegt.

Diagnostische Studien

Die Erstellung einer korrekten Diagnose ist eine der zentralen Herausforderungen in der hausärztlichen Medizin. Zum einen können sich hinter einem Symptom zahlreiche Erkrankungen verbergen, zum anderen müssen neben den organmedizinischen Erkrankungen auch die psychischen Aspekte berücksichtigt werden, wenn Hausärzte den Patienten im Sinne eines ganzheitlichen bio-psycho-sozialen Ansatzes gerecht werden wollen. Darüber hinaus treten die einzelnen, individuellen Erkrankungen mit einer geringen Häufigkeit in der Hausarztpraxis auf – man spricht hier vom unselektionierten Patientenklientel, in Unterscheidung zum hochselektionierten klinischen Setting. Aufgrund der geringeren Prävalenz der einzelnen Erkrankungen sind in der Regel die positiven Vorhersagewerte (= Wahrscheinlichkeit, dass jemand mit positivem Testergebnis auch wirklich krank ist) niedriger als im klinischen Setting. Man spricht diesbezüglich auch von diagnostischer Unschärfe im Niedrigprävalenzbereich des hausärztlichen Settings. Am Institut für Allgemeinmedizin der TU München werden unter anderem Studien durchgeführt, um die diagnostischen Strategien und Erkennungsraten von somatischen (im engeren Sinne: bei Asthma bronchiale und COPD) und psychosomatischen Erkrankungen zu verbessern.

Psychosomatik

Patienten mit einer erhöhten psychischen Komorbidität weisen eine erhöhte Inanspruchnahme von Leistungen im Gesundheitswesen auf, wie vor allem aus internationalen Studien bekannt ist. Diese sogenannte Utilisierung ist sowohl im Hinblick auf den Ressourcenverbrauch problematisch, als auch potentiell gefährlich für die Patienten, da durch wiederholte diagnostische Untersuchungen (z.B. Biopsien, radiologische Untersuchungen) die Patienten geschädigt werden können. Die Bedeutung der psychischen Komorbidität für den hausärztlichen Kontext in Deutschland war bisher im Wesentlichen unklar. Eine Beschreibung der deutschen Verhältnisse ist jedoch von hoher Bedeutung, da die hausärztliche Versorgung einige Besonderheiten im Vergleich zu anderen internationalen Gesundheitssystemen aufweist. Beispielsweise ist die hausärztliche Kontaktrate in Deutschland außerordentlich hoch, sie liegt bei durchschnittlich 250 Arzt-Patient-Kontakten wöchentlich – in anderen Ländern wie Australien, England oder Kanada ist die Kontaktrate nur halb so hoch. Ursächlich hierfür ist vermutlich das quartalsbasierte Abrechnungssystem, das letztlich auch eine erhöhte Inanspruchnahme begünstigen könnte. Am Institut für Allgemeinmedizin werden Untersuchungen durchgeführt, um die Bedeutung der psychischen Komorbidität für den hausärztlichen Behandlungskontext und für die Versorgungssteuerung besser zu verstehen und damit den Umgang mit diesen Patienten optimieren zu können. Darüber hinaus erstellen wir ein systematisches Review zur Frage, welche Behandlungsoptionen am effektivsten für Patienten mit Depressionen in der Primärversorgung sind. Diese Netzwerkmetaanalyse wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Analyse von Routinedaten

Die Analyse von Routinedaten ermöglicht die Beschreibung eines breiten Versorgungsgeschehens, unter anderem bis hin auf Gesundheitssystemebene. Besondere Herausforderungen ergeben sich dadurch, dass die zu analysierenden Daten nicht zu Forschungszwecken dokumentiert werden, sondern im Rahmen von Routinetätigkeiten, also vor allem bei Abrechnungs- und Qualitätsmanagementprozessen anfallen. Dadurch sind die Daten nicht einfach abrufbar wie bei einer Forschungsdatenbank sondern müssen entsprechend aufbereitet werden, um sie einer strukturierten Analyse zuführen zu können. Darüber hinaus variiert auch die Dokumentationsqualität, so dass Analysen sehr vorsichtig durchgeführt werden müssen, um Bias zu vermeiden. Auch die resultierenden Ergebnisse müssen mit Umsicht interpretiert werden. Die Auswertung der Disease Management Programme (DMP) ist hierbei noch verhältnismäßig einfach, da die Dokumentation strukturiert erfolgt. Derzeit werden in Kooperation mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Bayerns die DMPs Asthma, COPD, KHK und Diabetes Typ 2 am Institut für Allgemeinmedizin ausgewertet. Ein weiteres Projekt wird derzeit vom Zentralinstitut der Kassenärztlichen Vereinigungen (ZI) gefördert. Im Rahmen dieses Projekts werden die Auswirkungen der Steuerungsfunktionen durch den Hausarzt anhand der Routinedaten der gesetzlich versicherten Menschen in Bayern analysiert. Letztlich soll hierbei ermittelt werden, wie sich die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen bei Patienten aus dem städtischen und ländlichen Raum unterscheidet. Darüber hinaus sollen Charakteristika von sogenannten „Doctor-Hopper“ / „Doctor-Shopper“ herausgearbeitet werden.

Geriatrische Aspekte der hausärztlichen Versorgung

In Deutschland – wie auch in allen anderen industrialisierten Ländern – ist eine zunehmende Alterung zu verzeichnen. Dies verändert auch die hausärztlichen Versorgungsaufgaben. Früher stand die Behandlung akuter Beschwerden im Vordergrund des hausärztlichen Praxisalltags, heutzutage erlangt jedoch die Behandlung von chronischen Erkrankungen eine immer höhere Bedeutung. Im Hinblick auf die Versorgung der alternden Bevölkerung mit zunehmender Multimorbidität und Gebrechlichkeit sind nicht nur medizinische Herausforderungen gegeben, sondern es besteht auch die Notwendigkeit zu verbesserter Kooperation und Delegation bzw. die Entwicklung neuer Gesundheitsberufe, die in die Versorgung eingebunden werden. Am Institut werden Konzepte zur Optimierung der Zusammenarbeit von Pflegeeinrichtungen mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten entwickelt. Weitere Projekte umfassen die Themen Multimedikation und geriatrische Palliativmedizin.

Untersuchungen zu Motivationslagen und Haltungen des ärztlichen Nachwuchses zum hausärztlichen Beruf

In den nächsten Jahren ist ein erheblicher Ärztemangel im hausärztlichen Bereich, insbesondere im ländlichen Raum zu erwarten. Derzeit sind mehr als 50% der Hausärztinnen und Hausärzte älter als 55 Jahre, so dass in den nächsten zehn Jahren mehr als die Hälfte nicht mehr in der Versorgung tätig sein wird. Dem steht eine viel zu geringe Anzahl an Ärztinnen und Ärzten gegenüber, die den Facharzt Allgemeinmedizin erlangen. In Bayern werden derzeit jährlich maximal 200 Ärzte zur Facharztprüfung Allgemeinmedizin zugelassen, was keinesfalls ausreicht, um den Bedarf an Nachwuchs zu decken. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Zum einen wird hierfür eine Landflucht verantwortlich gemacht, mit der ausgedrückt wird, dass die junge Generation bevorzugt in Großstädten leben möchte. Zum anderen sinkt die Bereitschaft der Jüngeren, rund um die Uhr für die Versorgung ihrer Gemeinde zuständig zu sein. Vor diesem Hintergrund werden Einzelpraxen auch oft als „Auslaufmodelle“ bezeichnet. Auch die sogenannte „Feminisierung“ in der Medizin trägt zu dieser Entwicklung bei, da insbesondere die Frauen auf eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf achten. Am Institut werden mehrere Untersuchungen zu den Motivationslagen von Studierenden der Medizin und von Ärztinnen und Ärzten in Weiterbildung untersucht. Ziel ist es, die Wünsche und Bedürfnisse der nachwachsenden Medizinergeneration beschreiben zu können, um entsprechend Anregungen zur Optimierung der hausärztlichen Berufsausübung geben zu können.