Priorisierung in der Medizin – DFG-Forschergruppe FOR 655

Univ.-Prof. Dr. Klaus Nagels, Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften (IMG) der Universität Bayreuth:

Studienhintergrund und Zielsetzung
Im Kontext relativer und absoluter Knappheit medizinischer Ressourcen stehen grundsätzlich unterschiedliche Entscheidungs- bzw. Handlungsoptionen zur Wahl. Eine Rationalisierung, die im engeren Sinne keinen Patienten schlechter stellt bzw. das Ausschöpfen von Effizienzreserven als erste, rational begründete Option reicht nicht aus, um eine Knappheitssituation aufzulösen. Die Rationierung impliziert als „Verweigerung oder Nichtbereitstellung von Behandlungsleistungen trotz Nachfrage und zugleich festgestelltem objektivem Bedarf“ das Vorenthalten medizinisch zweckmäßiger Leistungen. Priorisierung in der Medizin kann als systematische Vorbereitung einer Rationierung dienen, beschreibt aber zunächst „die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vor anderen. Grundsätzlich führt Priorisierung zu einer mehrstufigen Rangreihe. An deren oberen Ende steht, was als unverzichtbar bzw. wichtig erscheint, am Ende das, was wirkungslos ist bzw. mehr schadet als nützt. Nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen können priorisiert werden.“ Während sich die vertikale Priorisierung auf einen Versorgungsbereich beschränkt, erstreckt sich die horizontale Priorisierung über unterschiedliche Versorgungsbereiche hinweg. Das Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften (IMG) ist Teil des ersten Forschungsprojekts, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Priorisierung in der Medizin finanziert hat. Die Forschergruppe 655 „Priorisierung in der Medizin“ ist ein multidisziplinärer Verbund von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Medizin, Gesundheitsökonomie, Psychologie, Jurisprudenz, Philosophie und Soziologie. 14 Universitäten und Forschungseinrichtungen kooperierten 2007 bis 2025 in zehn Teilprojekten, die theoretisch-normative sowie empirische Untersuchungen zum Gegenstand hatten.

Methodik
Im Zuge der ersten Förderphase der Forschergruppe, die auf die Exploration eines möglichst breiten Spektrums relevanter Priorisierungskriterien abstellte und dabei unterschiedliche Stakeholder berücksichtigte, beschäftigten sich zwei Arbeitsgruppen des IMG insbesondere mit qualitativen Leitfadeninterviews und waren an einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung beteiligt. Eine der Arbeitsgruppen fokussierte Präferenzen im Kontext der Organallokation, die zweite Arbeitsgruppe im Kontext der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK). Die explorierten Kriterien werden mittels (quantitativer) Conjoint-Analysen in einer Rangfolge nach ihrer Gewichtung durch Stakeholder geordnet.

Status, Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Untersuchungen der ersten Förderphase identifizierten Alter, Selbstverantwortung und Evidenzbasierung als zentrale Kriterien, die allerdings in Abhängigkeit des Kontextes unterschiedlich zu bewerten sind. Anhand dieser Kriterien analysiert das IMG in der zweiten Förderphase, wie sich Präferenzen und Argumentationsmuster für verschiedene Kontexte (z.B. Organallokation und Erstattung von Zahnersatz) unterscheiden. Dazu dient die partizipative Methode des Fokusgruppeninterviews. Darüber hinaus wird untersucht, ob ein gestufter diskursiver Prozess einen Beitrag dazu leisten kann, dass komplexe Problemstellungen der Priorisierung in der Medizin auch von Laien auf einer informierten Basis beurteilt werden können. Hierzu findet die World Café-Methode Anwendung. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verbreitung partizipativer, deliberativer Verfahren im Kontext politischer Entscheidungsfindung erscheint diese Fragestellung besonders relevant.

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